Krebserkrankung meiner Mutter Teil 2
Vor einiger Zeit hatte ich hier über die Krebserkrankung meiner Mutter berichtet. Sie war an einer, für ihr Alter und für ihr Geschlecht, untypischen Krebsform erkrankt. Denn ein Magenkrebs trifft statistisch gesehen häufig(er) Männer im Alter über 70 Jahren. Mehr dazu erfahrt ihr z.B. auf der Seite der Deutschen Krebgsgesellschaft (unbeauftragte und unbezahlte Verlinkung).
Sie traf es mit gerade mal 48 Jahren, was wieder einmal zeigt, dass sich Krebs an keine Statistiken hält. An die Überlebensstatistik des bei ihr diagnostizierten Magenkarzinoms hielt er sich dann wenigstens und erfreulicherweise auch nicht, so dass sie -trotz der schlechten Prognose- auch heute noch ihr Leben genießen kann; wenn auch eingeschränkt und niemals mehr so, wie vor der Erkrankung!
Kampfgeist und Lebensretter:
Dass sie noch lebt, haben wir in erster Linie dem Kampfgeist meiner Mutter zu verdanken. Daneben aber auch noch vielen anderen Lebensrettern: zum einen dem Operationsgeschick eines ganz tollen, mittlerweile emeritierten Professors für Abdominal-Chirurgie der Uniklinik Lübeck. Er und sein Team hatten ihren Magen und glücklicherweise auch den darin befindlichen unliebsamen und gefürchteten Gegner, erfolgreich entfernt.
Sie und wir alle ahnten damals noch nicht, dass sie den Bauch meiner Mutter einige Jahre später erneut würden retten müssen. Zum anderen aber auch meinem ganz persönlichen Lebens-Helden: meinem Mann. Und einem phantastischen Team der Intensivstation der Anästhesiologie der Essener Uniklinik, die eine unglaubliche medizinische Leistung vollbracht haben.
Mittlerweile sind 20 Jahre seit der Magen-OP vergangen und sowohl meine Mutter als auch ich können und möchten nun über ihre weitere Geschichte berichten. Um anderen Betroffenen Mut zu machen.
Die Hoffnung nicht verlieren
Mut und Hoffnung sind nämlich zwei ganz wesentliche und wichtige Punkte, die den Betroffenen während einer solchen Krankheit verständlicherweise leicht abhandenkommen können und dennoch so unendlich wichtig sind. Daher möchten wir an dieser Stelle mit dieser besonderen Geschichte Mut machen. Denn diese Geschichte ist nicht nur deshalb besonders, weil sie uns persönlich direkt und indirekt betrifft, sondern sie ist auch aus medizinischer Sicht besonders.
Zum einen wegen der Diagnose und des Verlaufes an sich. Aber vor allem auch deshalb, weil der Krebs nicht der einzige Feind war, gegen den meine Mutter zu kämpfen hatte. Der Krebs hatte zwar den Weg geebnet, um eine unfassbar dramatische Situation zu ermöglichen. Niedergemetzelt hätte sie aber fast ein anderes medizinisches Ungeheuer, ein anderer Erzfeind des Lebens. Welcher es war, wie es dazu kam und was wir getan haben, erfahrt ihr im Folgenden:
Entfernung des Magens:
Nachdem meine Mutter die Krebsdiagnose erhalten und die OP hinter sich gebracht hatte, versuchte sie, so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen. Ohne Magen bzw. mit nur einem kleinen Rest davon und einem deutlich abgewandelten Verlauf der Darmschlingen war die härteste Herausforderung, neben dem Leben mit der Angst, die seit der Diagnosestellung in sämtlichen Zellen ihres Körpers steckte, die Umstellung der Ernährung. Was konnte sie essen, was vertrug sie? Welche Mengen waren möglich? Wie konnte sie bestmöglich mit dem Dumping-Syndrom (eine äußerst unangenehme Begleiterscheinung der OP) umgehen?
Über ihre Erfahrungen könnte sie ein ganzes Buch schreiben und würde damit sicher vielen Betroffenen helfen können. Doch so weit sind wir leider noch nicht. Vielleicht irgendwann. Ich zumindest würde es mir wünschen. Zusammengefasst kann ich nur sagen, dass ich es unglaublich fand, mit wieviel Einsatz, Recherche und Disziplin sie all diese Herausforderungen anpackte und weitestgehend in den Griff bekam. Einzig das Dumping-Syndrom macht ihr auch heute noch gelegentlich das Leben schwer; aber auch damit hat sie Wege gefunden und weiß (meist und gezwungenermaßen), damit umzugehen.
Das Leben nach und mit der Diagnose:
Somit schaffte sie es auch, bereits 6 Wochen nach der OP wieder ihrem Job nachzugehen. Sie war zwar über 25 Jahre als Krankenschwester auf einer gynäkologischen Station eines Essener Kreiskrankenhauses tätig gewesen. Zuletzt hatte sie jedoch (nach einer weiteren Ausbildung) in der gleichen Klinik als Diabetesberaterin gearbeitet und stieg nach der OP und anschließender Reha wieder in ihre Vollzeitstelle ein. Zwei Jahre ging auch alles gut.
Bis eines Tages die Bauchschmerzen begannen. Im weiteren Verlauf kamen und gingen sie, bis es einige Male so schlimm wurde, dass sie zum Arzt / Notaufnahme musste. Dort konnte zunächst keine akute Ursache festgestellt werden, so dass die Behandlung symptomatisch erfolgte.
Angst und Schmerzen:
Da die Schmerzen jedoch immer wiederkehrten, wurde schließlich eine ausgiebige Diagnostik veranlasst. Dabei zeigte sich, dass die Passage in einem Bereich des Darmes nicht mehr ungehindert war. Und Zack: da war sie wieder: die Todesangst! Denn das bedeutete, dass sich im schlimmsten Falle Metastasen gebildet hatten oder es zu einem Rezidiv gekommen war. Es gab auch die Möglichkeit einer Passagebehinderung durch Verwachsungen im Bereich der OP-Narbe und natürlich hofften wir alle, dass es sich um diese Variante handelte. Alles andere war schlichtweg undenkbar! Doch die Angst, die man bis dahin irgendwie unterdrückt hatte, kehrte mit voller Wucht zurück und nur eine erneute OP konnte zeigen, was die wahre Ursache war.
Es wurde beschlossen, mit Hilfe einer Bauchspiegelung, die Ursache zu klären. Würde man auf eine Metastase oder ein Rezidiv stoßen, würde man eh besprechen müssen, wie es weitergehen sollte / konnte. Und wenn es „nur“ eine Verwachsung war, würde man sie auf diesem Wege beheben können. Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, wie belastend die Zeit bis zur OP war. Ich zumindest weiß es noch sehr genau und ich bin mir sicher, dass sich auch meine Mutter noch sehr gut daran erinnern wird.
Eine neue Diagnose:
Dann kam er: der Tag der OP; es war ein Freitag, mitten im Dezember 1999. Leider konnte ich nicht vor Ort sein, da ich gerade meine AiP-Stelle in der Kinderklinik begonnen hatte und an diesem Tag arbeiten musste. Ich weiß jedoch noch ganz genau, auf welcher Station ich damals tätig war und wie sehr ich dem Anruf der behandelnden Ärzte entgegenfieberte. Ich weiß aber auch, was für eine Angst ich vor diesem Anruf hatte. Irgendwann hatte das Warten endlich ein Ende und er kam: der erlösende Anruf.
Es sei „nur“ eine Verwachsung gewesen und man habe diese erfolgreich entfernen können. Ich weiß noch, wie ich daraufhin vor Freude im Kreis hüpfte und allen Kollegen und Schwestern, die mit mir gebangt hatten, die frohe Botschaft entgegen trällerte. Das war ein wahrer Freudentag für mich. Doch die Freude sollte nicht lange anhalten…
Postoperative Komplikationen:
Am Abend des OP-Tages teilte man mir mit, sie sei noch sehr müde von der OP und könne daher nicht mit mir sprechen. Das war nicht ungewöhnlich. Als sie jedoch auch am Folgetag noch sehr müde war und kaum mit mir sprechen konnte, begann ich mir Sorgen zu machen. Aber ich ließ mich von den ärztlichen Kollegen beruhigen und wartete ab; schließlich hatte ich Dienst, war über 400 km von ihr entfernt und glaubte, sie in guten Händen zu wissen. Schließlich war sie in dem Krankenhaus operiert worden, in dem sie mehr als 25 (!) Jahre als überaus beliebte und geschätzte Krankenschwester gearbeitet hatte.
Als ich am Abend erneut anrief, teilte man mir mit, dass sie „sicherheitshalber“ auf die Intensivstation verlegt worden sei, da ihr Kreislauf „schwach“ war und man sie überwachen wollte. Ich müsse mir aber keine Sorgen machen. DAS war der Zeitpunkt, an dem ich mir extreme Sorgen machte und, zusammen mit meinem Mann, der zum damaligen Zeitpunkt selbst auf einer Intensivstation tätig war, beschloss, nach Essen zu fahren, um mir vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Es wurde ein wahrer Höllentrip. Mit der Sorge im Nacken und einer so verschneiten und vereisten Autobahn, wie ich sie niemals zuvor erlebt hatte, fuhren / rutschten wir mit max. 50 km/h über die Autobahn. Schneller kamen wir nicht voran; so dass wir erst mitten in der Nacht und voller Sorge in der Essener Klinik ankamen.
Kritische Situation:
Als wir die Station betraten, begrüßte man uns mit sorgenvoller Miene und teilte uns mit, dass es meiner Mutter gar nicht gut ginge. Sie war zwischenzeitlich beatmungspflichtig geworden und ihr Zustand hatte sich rapide verschlechtert. Den genauen Grund hörte ich schon nicht mehr, sondern raste an den Ärzten vorbei zu meiner Mutter in das Zimmer.
Und die Situation, die sich mir dort bot, werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Ich sah ein Intensivbett und eine Frau, die an einer Beatmungsmaschine und unendlich vielen Schläuchen angeschlossen war. Doch es war nicht meine Mutter. Zumindest dachte ich das bzw. wollte wohl auch nicht glauben, dass diese Person dort meine Mutter sein sollte. Zumal sie überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit ihr hatte. Meine Mutter war jung Mutter geworden, hatte stets sehr viel Wert auf ihr Äußeres gelegt und war mit fast 50 Jahren, trotz schwerer Erkrankung, eine sehr attraktive Frau geblieben. Doch die Frau, die ich dort sah, hatte tatsächlich keinerlei Ähnlichkeit mehr mit ihr. Warum?
Weil sie eine sog. Plus-Bilanz von 17 Litern in ihrem Körper hatte! Das heißt, sie hatte einen Flüssigkeitsüberschuss von 17 Litern!!! Ihr Körper war aufgedunsen, ihr Gesicht schien platzen zu wollen!!! WARUM?
Warum???
WARUM fragte ich mich fassungslos??? Sie hatte zwar 2 Jahre zuvor eine Krebsdiagnose erhalten, hatte sich jedoch körperlich, bis auf die o.g. Punkte schnell und relativ gut von ihrer Magen-OP erholt und war äußerlich fast unversehrt ins Krankenhaus gegangen. Wegen einer Verwachsung, die nun entfernt worden war. Es war kein Rezidiv und keine Metastase gefunden worden; ich hatte mich wie verrückt darüber gefreut und nun teilte man mir mit, dass sie in einem absolut kritischen und lebensbedrohlichen Zustand war?!?!?!?!!!
WAAAAAARUM????
Ich weiß nicht, ob man mir die Antwort auf diese Frage in dem Moment gab oder nicht. Ich weiß nur, dass
ich NICHTS denken /
ich NICHTS verstehen konnte.
ICH VERSUCHTE ZU beGREIFEN!
Verzweiflung:
Ich ging zu ihr hin, sprach sie mit ihrem Namen bzw. mit „Mutti“ an, streichelte über ihren Arm und fing an, ihr kroatische Lieder vorzusingen. Leise, jedoch direkt an ihrem Ohr. Lieder, die sie mir als Kind während langer Autofahrten in die Heimat vorgesungen hatte („Niti san ja seljanka“ und andere).
Ich erzählte ihr von meinem Tag, meiner Ausbildung. Ich sprach über all das, was mir wichtig war und was ich ihr schon immer sagen wollte. Dass ich sie liebe. Dass sie alles gut gemacht hat. Dass sie dazu beigetragen hat, dass ich der Mensch geworden bin, der ich bin. Dass ich ihr nichts nachtrage und dass ich hoffe, dass sie mir alles, was ich falsch gemacht habe, verzeiht. Dass ich hoffe, dass wir noch viel Zeit miteinander verbringen können. Dass ich hoffe, dass sie ihre Enkelkinder kennenlernt und aufwachsen sieht. Dass sie sieht, dass ich glücklich bin.
UND DASS SIE BITTE / BITTE WIEDER GESUND WERDEN SOLL!!!!
Hilflosigkeit:
Und während ich, wie in Trance, leise sang, kümmerte sich mein Mann um den medizinischen Hintergrund und suchte nach Antworten auf die Frage, wie es zu dieser Katastrophe hatte kommen können. Die behandelnden Ärzte, die meine Mutter „eigentlich“ sehr gerne mochten, aber ganz offensichtlich vollkommen überfordert waren mit der Situation, schüttelten bei ihrem Anblick ratlos mit dem Kopf und fragten (laut): „Ach Slavi (meine Mutter heißt Slavica), was machst Du nur für Sachen?“.
WIE BITTE??? Sie machte definitiv keine Sachen. Gar keine! Sie lag vollkommen hilflos und ausgeliefert in einem Intensivbett und kämpfte um ihr Leben, während die behandelnden Ärzte dabei waren, sie aufzugeben!!! Ich sang weiter und sprach mit ihr; zu etwas anderem war ich nicht in der Lage.
Mein Fels in der Brandung:
Gott sei Dank hatte ich meinen Mann an meiner Seite. So, wie ich ihn als Fels in der Brandung immer an meiner Seite habe und das seit mittlerweile 25 Jahren! Er hatte ganz offensichtlich die fehlenden Antworten gefunden, doch trugen diese nicht dazu bei, mich zu beruhigen. GANZ IM GEGENTEIL!!! Bei der OP war es versehentlich zu einer Verletzung des Darmes gekommen. Dies ist eine mögliche, wenn auch seltene Komplikation, über die man als Patient vor der OP aufgeklärt wird. Meine Mutter war darüber aufgeklärt worden; auch wenn sie als Krankenschwester über solche Komplikationen grundsätzlich informiert ist. Auch wir waren uns des Risikos natürlich bewusst gewesen. Denn Fehler können bei jedem Eingriff am menschlichen Körper passieren. Doch wenn es dazu kommt, sollten die Ärzte diese Anzeichen auch rechtzeitig erkennen und entsprechend handeln.
Darmperforation und Bauchfellentzündung:
Das hatten sie ganz offensichtlich nicht getan, so dass innerhalb von 36 Stunden ein absolut lebensbedrohlicher Zustand entstanden war: eine sog. Vier-Quadranten-Peritonitis. Dabei handelt es sich um eine Bachfellentzündung, die die gesamte Bauchhöhle betrifft und zu über 50% tödlich endet. Es gibt einen sog. Score-Wert, bei dessen maximaler Punktzahl (die meine Mutter hatte) die Sterblichkeitsrate bei über 50% liegt, was natürlich eine sehr „grobe“ Einschätzung ist. Im Prinzip war mir natürlich klar, dass 50% in diesem Fall sehr „großzügig“ bemessen war; es hätte auch gleich 100% heißen können.
Und genau das, war es, was mein Mann mir um 2 Uhr nachts, sehr behutsam aber ganz klar und deutlich sagte:
DASS MEINE MUTTER IN DIESER NACHT VERMUTLICH STERBEN WÜRDE!
WAS? Dass meine Mutter in dieser Nacht vermutlich sterben würde?!?!?!?
Ich wusste es ja eigentlich selbst, aber in diesem Moment brach auf dem Klinikparkplatz im eisigen Winter meine Welt zusammen. Und ich ebenfalls. Ich weinte. Ich schrie. Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte es nicht hinnehmen. Mein Mann tat alles, um mich zu trösten und mir Halt zu geben.
Der Mut der Verzweiflung:
Aber das, was er daraufhin tat, rettete meiner Mutter das Leben und meins gleich mit. Er ging, gemeinsam mit mir, zurück auf die Station und „übernahm“ quasi die weitere Therapie. Schließlich war er selbst zu diesem Zeitpunkt auf einer Intensivstation tätig und hatte ganz offensichtlich mit einem Patienten, der drohte an einem Multi-Organ-Versagen zu versterben, mehr Erfahrung, als die Ärzte in diesem Krankenhaus. Ich weiß immer noch nicht, ob ihm in dem Moment wirklich bewusst war, was für eine Verantwortung er da auf sich genommen hatte? Oder ob er das Risiko bewusst in Kauf nahm. Mir zuliebe. Meiner Mutter und seiner Schwiegermutter zuliebe.
Den Tod vor Augen:
Denn verloren hatte meine Mutter in dem Moment bereits. Sie hatte zu dem Zeitpunkt, neben der Plus-Bilanz von 17 Litern, ein Herz, das massive Rhythmusstörungen zeigte, Nieren, die ihre Tätigkeit einstellten, eine Lunge, die fast vollständig mit Flüssigkeit gefüllt war und eine Beatmung, die man im Fachjargon „invers“ nennt, das heißt, das selbst die Beatmungs-Maschine nicht mehr in der Lage war, den Körper mit Sauerstoff zu versorgen.
Was das für Langzeitfolgen haben würde, falls sie auf wundersame Weise überleben würde, wusste ich nicht. Keine Guten. Und gut würde es so oder so nicht enden können. Denn dass die inneren Organen bereits schwer geschädigt waren, war klar und dass ein Gehirn einen längeren Sauerstoffmangel nicht folgenlos hinnahm, eigentlich auch. Ich wusste all das. Und dennoch sang und redete ich weiter mit ihr.
Die Nacht überleben:
Während mein Mann alles Menschenmögliche unternahm, um die Situation – zumindest den Rest dieser endlos erscheinenden, furchtbaren Nacht – zu stabilisieren. Unsere Hoffnung war, dass sie die Nacht überstehen würde und wir am frühen Montagmorgen eine Möglichkeit finden würden, sie evtl in ein Krankenhaus der Maximalversorgung zu verlegen.
Obwohl jedem klar war, dass eine Verlegung in einem so kritischen Zustand eigentlich nicht möglich war. Aber noch weniger war es möglich, sie an diesem Ort zu lassen und die Ratlosigkeit der behandelnden Ärzte weiter mitanzusehen. Auch war klar, dass mein Mann in diesem Kreiskrankenhaus an die technischen Grenzen des Machbaren kommen würde bzw. es schon war. Ganz abgesehen von dem körperlichen und emotionalen Ausnahmezustand, in dem er sich ebenso befand, wie ich.
Die Verlegung überleben:
Die behandelnden Ärzte wollten das Risiko einer Verlegung nicht in Kauf nehmen und verweigerten diese. Somit telefonierte mein Mann selbst lange Zeit mit der Uniklinik in Essen und landete bei einem Arzt, der als leitender Oberarzt der anästhesiologischen Intensivstation in Essen tätig war und der bereit war, das Risiko und das Wagnis einer Verlegung meiner Mutter auf seine Station, einzugehen.
Er hielt sein Wort und kam in den frühen Morgenstunden mit einem Teil seines Teams und einer fahrbaren Intensivstation, um meine Mutter zu holen. Sie hatte es mit der Hilfe meines Mannes tatsächlich geschafft, diese Nacht zu überstehen. Als ich den Arzt auf uns zukommen sah, übermannten mich erneut meine Emotionen. Ich war einerseits unfassbar erleichtert. Denn alles, was er innerhalb weniger Minuten tat und sagte, schien hochprofessionell und ich war so dankbar, wie nie zuvor in meinem Leben.
Ein winziger Hoffnungsschimmer:
Ich spürte sofort, dass meine Mutter nur mit seiner Hilfe eine (wenn auch nur winzige) Überlebenschance haben würde. Gleichzeitig hatte ich bei seinem Anblick eine fast schon panische Angst. Denn mir war klar, dass die Wahrscheinlichkeit, dass meine Mutter diesen Transport überleben würde (auch wenn es nur einige Kilometer durch die Stadt waren), extrem gering war. Viiiiiieeeel grösser war nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie nun vermutlich die letzten Minuten „lebend“ sehen würde. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Ich nahm bewusst Abschied von ihr: ich hielt ihre Hand, küsste sie, roch an ihren Haaren, während die Tränen leise auf ihren Körper tropften. Ich versuchte, ihr all meine Liebe und ganz viel Zuversicht mitzugeben und hätte mich am liebsten fest und für immer an sie geklammert. Aber ich wusste, dass sie nicht viel Zeit hatte. Dass die Ärzte nicht viel Zeit hatten. Dass die Zeit gegen uns lief. Somit ließ ich sie gehen. Im wahrsten Sinne des Wortes! Und ich habe noch genau vor Augen, wie der Rettungswagen mit ihr davonfuhr. Vielleicht für immer…
Fortsetzung folgt:
Wie es weiterging, erzähle ich euch ein anderes Mal. Nun brauche ich erst einmal einen kleinen Abstand. Mit einem bewusst gewählten Spannungsbogen hat es jedenfalls nichts zu tun, das kann ich euch versichern. Vielmehr ist es für mich nicht leicht, den Spannungsbogen, der in meinem Inneren wütet, während ich diesen Text schreibe, auszuhalten. Dass sie überlebt hat, hatte ich schon eingangs erwähnt. Und das grenzt wirklich und wahrhaftig an ein Wunder. Ich denke, dass mir an diesem Punkt alle, die sich mit diesem Thema auskennen, zustimmen werden.
Schreiben als Verarbeitung:
Ich danke euch sehr, dass ihr mich und meine Mutter bei dieser – zugegeben nicht ganz leichten – Reise in die Vergangenheit begleitet. Mir diesen Ballast von der Seele zu schreiben, fühlt sich fast ein bisschen, wie „Therapie“ an. Und das ist gut so. Auch wenn es schon viele Jahre her ist, so wühlt mich die bewusste Erinnerung daran doch ganz schön auf. Aber das ist normal und wird mir nicht schaden. Ganz im Gegenteil; es wird mich Stück für Stück befreien.
Mutmacher:
Gleichzeitig ist diese Geschichte so unglaublich, dass ich sie m.E. auch erzählt werden muss. Denn gerade in der Medizin gibt es zwar selten, aber eben immer wieder Fälle, die eigentlich nicht möglich sein können. Und es doch sind. Das sind die Fälle, deren einzig Gutes vielleicht / hoffentlich darin besteht, anderen Mut zu machen. Mut zu machen in einer Situation, die ausweglos erscheint. Mut zu machen, in einer Situation, in der der Mensch dem Tod näher ist, als dem Leben. Zu zeigen, dass man mit Krebs allen Statistiken zum Trotz länger leben kann, als die „Berechnungen“ und Prognosen hergeben. Und dass man selbst, wenn man zum Krebs noch eine Horror-Diagnose („Vier-Quadranten-Peritonitis“) obendrauf bekommt, überleben kann.
Hätte ich damals, als es noch kein Internet gab bzw. ich noch keinen Zugang dazu hatte, auch nur von EINEM einzigen Fall direkt oder indirekt gewusst, bei dem der Betroffene diese Konstellation (ohne neurologische Folgeschäden) überlebt hat, dann hätte ich mich ganz sicher an diesen einen Fall „geklammert“ und gehofft. Denn die einzelnen Diagnosen kannte ich durch meine Ausbildung und meinen Beruf als Ärztin ja schon sehr gut. Und wusste, was wahrscheinlich war und was nicht. Und genau das machte die Sache nicht leichter. Aber Ärztin zu sein, ist das Eine. Gleichzeitig auch Tochter zu sein, das Andere.
Danke für eure Aufmerksamkeit.
Bleibt gesund, seid euch eurer Gesundheit bewusst und wertschätzt sie. Tag für Tag. Denn viel mehr als das, braucht es nicht, um glücklich und zufrieden zu sein.
Eure
Snjezi
7 Antworten
Liebe Snjezi,
es klingt wie in einem Horrorfilm und ist unvorstellbar, dass deine Mutter und Du, dass ihr etwas so schlimmes durchmachen musstet.
Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie es ist, wenn man um seine Mutter bangen muss, ich befand mich auch schon in so einer Situation.
Ich finde es sehr bemerkenswert, dass du diese Geschichte mit uns teilst.
Ich hoffe sehr, dass du noch ganz viele Jahre, tolle Momente und Erlebnisse mit deiner Mutter haben wirst.
Alles Liebe
Tina
Liebe Tina,
vielen Dank für Deine lieben Worte. Ich hoffe, dass Deine Mutter wieder wohlauf ist und es ihr gut geht.
Ja, die Sorge um einen nahen Angehörigen ist wirklich fürchterlich und ich hoffe, dass ich es nie wieder erleben muss.
Dir und Deinen Lieben wünsche ich eine ganz zauberhafte Adventszeit und ebenfalls ganz viele gemeinsame und tolle Erlebnisse.
Alle Liebe
Snjezi
Hallo.
Statistik bringt einem gar nichts, wenn es dich trifft.
Ich habe letztes Jahr mit 29 die Diagnose Eierstockkrebs erhalten. Warum ich mit 29 Jahren?
I.d.R. Trifft es Frauen ab 60.
Ich habe aufgehört mir diese Frage zu stellen sondern überlegt, ob ich mein Leben anders leben würde ohne diese Diagnose. Und ich habe gesagt, nein, würde ich nicht. Natürlich habe ich durch den Krebs viel Dinge machen müssen, die ich ohne Krebs nicht gemacht hätte, wie eine sehr große Bauchoperation und jetzt aktuell Chemo.
Durch meine zwei kleinen Kinder genieße ich das Leben solange ich leben darf. Ändern kann ich es nicht. Außer das Leben noch mehr zu genießen und noch mehr glückliche Momente zu haben. ☺️
Liebe grüße Lilly
Liebe Lilly,
was für eine tapfere und starke Frau Du bist! Mit 29 Jahren und als Mutter von zwei kleinen Kindern so eine Diagnose zu bekommen und damit klarkommen zu müssen, ist einfach nicht fair. Aber Krebs ist nicht nur ein Arschloch, sondern auch noch einer der unfairsten Gegner überhaupt. Daher wünsche ich Dir alle Kraft der Welt, um ihm das pure Leben entgegenzusetzen und es mit unendlich vielen Glücksmomenten zu versehen.
Ich wünsche Dir von ganzem Herzen alles erdenklich Gute und drücke Dich zumindest virtuell ganz fest.
Liebe Grüße
Snjezi
Ich bin total sprachlos und sehr berührt von deinem Bericht. Es muß unglaublich schrecklich gewesen sein. Ich wünsche deiner Mutter und auch dir alles Gute! Krebs ist einfach sch…. Mein Mann hatte auch viel zu früh damit zu tun Nierenkarzinom mit 41 Jahren). Er gilt noch nicht als geheilt und wir fiebern jeder Untersuchung entgegen und haben dann natürlich auch immer wieder Angst. Bis jetzt ist alles gut und das wird auch so bleiben! Ich glaube fest daran. Meine zwei Kinder und ich brauchen ihn doch noch ❤
Liebe Ines,
ja, das war es: schrecklich!!! Und weil es so schrecklich war und am Ende doch gut ausgegangen ist, habe ich darüber berichtet. Denn die Hoffnung ist das, was trotz allem immer bleiben sollte. Bei meiner Mutter bestand medizinisch gesehen tatsächlich kein Grund mehr zur Hoffnung und dennoch hat sie es geschafft. Somit ist immer auch ein gutes Ende möglich und das wünsche ich Dir und Deiner Familie von ganzem Herzen! Es tut mir soooo leid, dass auch Dein Mann und ihr als Familie in so jungen Jahren von einer Krebs-Diagnos betroffen seid. Ich drücke euch alle Daumen dieser Welt, dass ihr diese Zeit bald hinter euch habt und (soweit es nach einer solchen Erfahrung überhaupt möglich ist) unbeschwert in die Zukunft blicken könnt.
Alles erdenklich Gute für Deinen Mann und euch und ganz herzliche Grüße von der Küste,
Snjezi